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Zeitgeist. Ein Essay.

Seit der Mensch sich selbst für sämtliche Entdeckungen, Erfindungen und im gleichen Maße für die über ihn hereinbrechenden Katastrophen verantwortlich weiß, zählt es zu seinen vordringlichsten Anliegen, herauszufinden, wie und wodurch der Ablauf der Zeit von ihm beeinflusst werden könnte. Wird ihr jeweiliger Charakter maßgeblich von ihm geprägt, erweist er sich als idealer Zeitgenosse. Schließlich geht einiges auf seine Vorgänger zurück und sollte in Hinblick auf jene, die nach ihm kommen, berücksichtigt werden. Eine Stabilität wie die des um sich selbst kreisenden Wiederholens ist nichts für sie und ihn, handelt es sich bei Mann und Frau doch um Kreaturen, die richtig zu verstehen ein wenig mehr verlangt, als einen bloßen Blick auf ihr Verhalten. Ein Widerspruch wie zwischen Dasein und dem fortwährenden Nachdenken über eben dieses, übt hingegen eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf den Menschen aus. Widersprüchlich, weil solcherart Gedanken das eigene Vorhandensein und also den Gegenstand der gesamten Denkübung verändern und die Idee einer endgültigen Erkenntnis immer wieder in die Unerreichbarkeit verabschieden. Jede hinzukommende Beobachtung macht aus dem Dasein des Beobachters eines, das es vorher so noch nicht gegeben hat. Selbst das vermeintliche Begreifen der eigenen Situation kann daher jeweils nur vorübergehend anhalten, einen Augenblick lang aufblitzen, während sich bereits neuartige Voraussetzungen herauskristallisieren. Unausgesetztes Werden, das zu immer neuem Enthusiasmus anspornt, Momenten der Erkenntnis hingegen ein Gefühl von Ohmacht beimengt. Einer Ohmacht angesichts der Unaufhaltsamkeit dieser Veränderung, die auf den Menschen selbst zurückgeht, auf deren Konsequenzen sein Einfluss sich jedoch spärlich ausnimmt. Er übernimmt die Verantwortung und erkennt sich im gleichen Moment in seiner Machtlosigkeit, der heraufbeschworenen Befindlichkeit eine seinen Vorstellungen gemäße folgen zu lassen. Im Besonderen gilt das für den Einzelnen innerhalb der Masse, für das Individuum als Bestandteil der Gesellschaft. Dieser Vielzahl kommt besondere Bedeutung zu, seit die Betrachtung der Vergangenheit ihren Fokus nicht mehr ausschließlich auf die groben Züge des Weltgeschehens richtet, sondern auch dem privaten Leben Aufmerksamkeit schenkt.

Die Suche nach der Geisteshaltung, die mit einer bestimmten Epoche einhergeht, reicht gut zweihundertfünfzig Jahre zurück. Damals resultierte sie aus dem Bestreben, der Charakteristik eines bestimmten Zeitabschnitts anhand spezifischer Kriterien habhaft zu werden. Das führte unweigerlich zu der Frage, wem es denn nun zustünde, solcherart Kriterien festzulegen, zu bestimmen, welche Wesensmerkmale, welche Verhaltensweisen als symptomatisch zu bezeichnen wären. Schließlich wird dadurch eine einzelne Gruppe mitsamt ihrem Gehabe als repräsentativ für die gesamte Menschheit angesehen. Seitdem nehmen es immer wieder bestimmte Lager für sich in Anspruch, ihr Weltbild als das in Wahrheit ausschlaggebende zu proklamieren und, von diesem ausgehend, ein zeitgemäßes Layout von Rechtschaffenheit und Integrität einzufordern.

Es ist kein Zufall, dass solcherart Ideen insbesondere in einer Region der Welt diskutiert wurden und werden, deren Bewohner sich traditionell als Inbegriff des Fortschritts und als Maßgabe ihrer eigenen Spezies betrachten. Dem vermeintlichen Charakter unserer Zeit entsprechend, wird eine solche Vorrangstellung heute nicht mehr explizit gemacht und, falls doch, dann mit dem Verweis verharmlost, dass das zu den urmenschlichen Bedürfnissen gehöre, ja, den Menschen inklusive seines Ichs im Grunde erst bedinge. Ich bin, was die Zeit ist. Mein Verhalten sollte sich als dem angepasst erweisen, wodurch meine Zeit sich von vorangegangenen Zeiten unterscheidet. Die Zeit jedoch erweist sich als unendlich vielfältige, aus sich selbst hervorgehende Entwicklung. Wo es an Überblick mangelt, wird eine Kategorisierung herangezogen. Eine Anregung dazu mag vom Umgang mit den Künsten ausgegangen sein. An ihnen wurden Übereinstimmungen konstatiert, deren Weiterentwicklung phasenweise beinahe im Gleichschritt erfolgte. Dem Umstand, dass solche Parallelen mit dem strengen Diktat einer verhältnismäßig kleinen Gruppe zusammenhingen, wurde dabei nicht ausreichend Rechnung getragen. Ebenso wenig wie der im Vergleich mit heute beschränkten medialen Verbreitung, deren Schrankenlosigkeit aktuell zu den gesellschaftlich brisanten Themen zählt.

Fehlerhafte Einschätzungen dieserart haben zu dem zweifelhaften Image beigetragen, das einem Begriff wie Zeitgeist über Jahrhunderte hinweg anhaftete. Die Religion, totalitäre Systeme, das männliche Geschlecht, bis hin zu einer auf allgemeinen Wohlstand ausgerichteten Wirtschaft, die wir mittlerweile angeblich selbst repräsentieren: Immerzu steckt ein System dahinter, das es zu seinen Agenden zählt, die vermeintlich richtige Einstellung zum Jetzt und ein davon abgeleitetes, ein zeitgemäßes Benehmen auszuloten. Wie die Lebensführung der wahren Gläubigen aussieht, wie sich der Untertan zu verhalten habe, welche Pflichten dem Staatsbürger zukommen, wer ein Teamplayer ist und was ein Patriot empfinden sollte. Heutzutage etwa gilt es, als Konsument jene Kooperationsbereitschaft an den Tag zu legen, die jedem Mir in uns zugute kommt und für all die in unseren Fußstapfen von Vorteil sein möge.

Für unsere Vorfahren hingegen schien es außer Frage zu stehen, dass ein mit der Zeit verbundenes Schicksal der Menschheit endlich sein müsse. Von einem Anfang, dessen Wurzeln bis in einen mystisch verbrämten Urzustand zurückreichen, wohl behütet, wenn auch mitunter streng geprüft, in eine von höherer Instanz entworfene Zukunft. Ein Hinweis darauf liegt in der noch heute gängigen Einteilung in Begriffe wie Urzeit, Frühzeit, Neuzeit und dergleichen. Im Laufe der Jahrhunderte hat sich die Wissenschaft jedoch alles Metaphysischen entledigt und die Technik mit ihrer Regelhaftigkeit über das menschliche Zusammenleben gestülpt. Seit der Moderne scheint der Mensch im Jetzt angekommen, wurden die eigenen Erwartungen eingeholt, und die Hoffnungen in eine höhere Wesenhaftigkeit vorerst aufgegeben. Von diesem Moment an heißt es für die Menschheit, die richtungweisende Instanz aus sich selbst hervorzubringen. Der Mensch beginnt zu verstehen, dass Begriffe wie nun, jetzt und aktuell zu einem immer wiederkehrenden Moment gehören und nicht zu einem spezifischen Zeitabschnitt, den beständig wiederzubeleben sein Anliegen sein sollte. Das Heute rückt in den Mittelpunkt, sobald erkannt wird, dass der Ablauf der Zeit wenn schon nicht bestimmt, dann doch verändert werden kann. Fortan dient die Vergangenheit der Analyse in Hinblick auf die Gegenwart, die Zukunft wiederum einer vorstellbaren Perspektive. Die Moderne wird mit Vorsilben gespickt, die Klassik in ihrer Eigenschaft als immer wiederkehrender Höhepunkt verstanden. Eine solche Übereinkunft steckt hinter Strategien wie Collage, Remix oder Sample. Erkenntnisse wie sie diejenigen ereilen, die nicht länger über sich ergehen lassen, sondern mitwirken, mitgestalten anstatt sich auf die Rolle des Zuschauers zu beschränken.

Sich im Vorübergehenden aufzuhalten, gelingt nur dem, der sein Leben als einen unablässig im Werden befindlichen Zustand begreift. Als Kommen und Gehen, Rückkehr, Aufbruch, fallweise mit Verspätung. Ein wiederkehrendes Verlassen des Zuhauses um zwischenzeitlich Unterschlupf in einem Nicht-Zuhause zu finden. Das ist der Geist des Reisenden, für den sich unterwegs ein Blick auf seine Zeit an den anderen reiht, für die Dauer eines Blitzlichts ohne Fotoapparat. Und das Hotel ist so ein Nicht-Zuhause. Ein Ort, um sich auf einer Reise von der Reise zu erholen, von wo aus ein Blick auf das Vorübergehende gelingen kann. Das Hotel als dort, wo Menschen unterschiedlichster Herkunft, Kultur, Absicht und Vergangenheit zusammentreffen und Zeit verbringen ohne einander zu begegnen. Sie haben sich zwar verabredet, aber nicht untereinander, sondern jeweils mit jemandem von der Rezeption. Sie sind auf der Durchreise, auf der Hochzeitsreise, für ein paar Tage hier um Geschäfte zu machen oder eine Sehenswürdigkeit zu besuchen. Gemeinsam und doch ohne voneinander zu wissen, füllen sie ihre Unterkunft mit ihren Absichten, Ansichten, Aussichten, die in ihrer Verschiedenheit individueller nicht sein könnten. Sie laufen sich über den Weg, sobald sie ihre Zimmer verlassen. Zimmer, von denen sie als Gäste grundsätzlich gleich behandelt werden, unabhängig davon, wer für die Rechnung aufkommt. Sie gehen ein Stück des Weges gemeinsam den Flur entlang, warten nebeneinander auf den Lift, nehmen Gesprächsfetzen wahr, die aus dem Zusammenhang gerissen, bestenfalls einen neuen, ihren eigenen, dem Moment geschuldeten Sinn ergeben. Sie selbst steuern solche Gesprächsfetzen dem allgemeinen Unverständnis bei.

Im Frühstücksraum sitzen sie Tisch an Tisch, bedienen sich am gleichen Buffet, jeder auf die ihm, ihr eigene Art und Weise. Im Frühstücksraum werden Liebesschwüre erneuert und Vertragsabschlüsse angepeilt, wird ein Streit vom Zaun gebrochen, ein Vortrag ein letztes Mal überflogen, einem Kind vergeblich die Angst vor einer Besichtigungstour genommen. Nach außen hin ist das Hotel ein Zustand, ist es Architektur, eine Adresse, ein Angebot im Internet. Dort, wo es Menschen beherbergt, die auf eine Fürsorge treffen, die andere Menschen verwirklichen, wird aus diesem Zustand eine Funktion. Ephemeren Phänomenen wie dem Zeitgeist vergleichbar, ist das Hotel nicht einen Moment lang etwas Ganzes, sondern dank der ständigen Veränderung in seinem Inneren und zahlreicher Individuen, die insgesamt Gäste wie auch Personal ausmachen, andauerndes Werden. Kommen und Gehen, Freizeit, Lebensunterhalt. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fließen ineinander. Während die letzte Nacht des Aufenthaltes anbricht, erfolgt die Reservierung für die kommenden paar Tage. Oben ziehen zwei es vor, auf ihre vorübergehende Unerreichbarkeit hinzuweisen, indes unten jemand früher eintrifft als erwartet. Die Betten mögen voll besetzt sein, die Küche und das Zimmerservice ausgelastet. Vollständig vorhanden ist das Hotel, wenn überhaupt, dann augenblickeweise im Bewusstsein einzelner. Als Faser jener Inspiration, die man von einer Reise mit nach Hause bringt, wiewohl die üblicherweise auf erreichte Ziele, denkwürdige Zeremonien oder die eine oder andere Skurrilität zurückgeführt wird. Zeitgeist, wie er in einem Hotel umgeht, dient niemandem zur Unterdrückung. Sondern kommt, als Ultralight-Version des Nachdenkens über die Existenz, einer einzigartigen Momentaufnahme nahe, wie sie anderswo in der Gesellschaft selten anzutreffen ist.

Die paar Worte, das Satzfragment, das der Gast in seinem Zimmer findet, nicht durch die Wand hindurch aufschnappt, weder vom Telefon noch vom Fernsehapparat vermittelt bekommt, sondern dort liest, wo er einen Blick auf sich selbst wirft, soll ihn und sie an den übergeordneten Zusammenhang erinnern, zu dessen individuellen Elementen sie zählen. Das zur Gänze einzusehen, wird ihnen niemals möglich sein, wiewohl gerade sie erst ihre Vollständigkeit ausmachen. Eine Vollständigkeit, die nach ihrer Abreise eine andere sein wird.

Hanno Millesi